44. Berlin-Marathon – Obergefreite der Reserve Anna Hahner, melde mich zurück!

Flach, unvergesslich, megaschnell. Den weltweit schnellsten Kurs über die klassische Langstreckenlaufdistanz, den gibt es nur einmal auf der Welt. Dreht sich alles ums ultimative Renntempo, die olympische Marathondistanz über 42,195 Kilometer in maximaler Menschenrenn-Geschwindigkeit zu überwinden, ist die deutsche Hauptstadt für die ambitionierte Equipe der weltschnellsten Long-Distance-Runner ein absolutes Muss. Fast schon fabrikmäßig wurden hier in den letzten Jahrzehnten Marathon-Weltrekorde produziert – insgesamt zehn Mal. Auch das ist ein faktischer Weltrekord für sich, wie die untrügliche Leichtathletik-Statistik der jeweils erfolgsgekrönten Protagonisten-Ära beweist. Seither konnten die Chronisten über sieben Männer und drei Frauen berichten, die mit famosen Topzeiten weltweit für Furore sorgten. Auch der 44. Berlin-Marathon firmierte wieder untern dem bravourösen Vorzeichen, erneut den Schallmauerdurchbruch anzuvisieren. Beim Leichtathletik-Spektakel der Superlative in der 44. Auflage gingen 43.852 Läufer aus 137 Nationen an den Start, darunter das deutsche Marathon-Ass, die Reservistin Anna Hahner. Der Berliner Sportjournalist Volker Schubert berichtet.

Achillessehnenanriss! Die ärztliche MRC-Diagnose klang wie ein Verdikt, das Anna Hahner da im Spätsommer 2016 leistungssportlich wie emotional wegstecken musste. Die medizi­- nische Hiobsbotschaft traf kurz nach den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro ein. Striktes Laufsportverbot hatte ihr Orthopäde verordnet. Kein noch so lockeres Läufchen also, jede Belastung des Sprunggelenks verboten – basta! Das ärztliche Gutachten mit den obligatorischen Verhaltensregeln schlug allerdings nicht als einzige Bombe ein, die Deutschlands ausdauerndste Reservistin in jener Zeit wegstecken musste. Kurz zuvor sorgte Anna mit ihrer Zwillingschwester Lisa für medial heftig bebende Einschläge. Bei den Olympischen Sommerspielen 2016 in Brasiliens Haupt- stadtmetropole sorgten die als Hahner-Twins Marketing erfolgreich firmierenden Leichtathletinnen für weltweite Meldungen, die in der Sportwelt höchst ambivalent kommentiert wurden. Was Schlimmes war da auf den asphaltierten Avenues von Rio de Janeiro passiert? Die Hahner-Zwillinge, beide Teilnehmer des olympischen Marathonlaufs der Frauen und für das Nationalteam des Deutschen Leichtathletik-Verbands (DLV) am Start, traten an die Ablauflinie, liefen los und kamen an – und zwar zu zweit, Hand in Hand. Für die internationalen Sportjournalisten und ihre Fotografen ein echter Augenschmaus, den die gertenschlanken, blondhaarigen Zwillinge aus dem hessischen Hünfeld da boten.

Hand-in-Hand-Ziel-Einlauf

Das, was die Kameras beim Rio-Finish der beiden deutschen Marathon-Asse da zeigten, das war zudem ein breites Lächeln, das den beiden beim Passieren der Rio de Janeiro Marathonziellinie da über die Lippen rollte. Nicht mehr und nicht weniger, denn mit den Platzierungen auf Rang 81 und Rang 82 in eher mäßigen 2:45:32 Stunden, konnten die Twins wahrlich nicht punkten – immerhin hatten die beiden ihre damals geltenden Bestzeiten jeweils um gut eine Viertelstunde verfehlt.
Rasch wandelte sich ihr 42-Kilometer-Auftritt in der klimatisch brühwarm aufgeladenen Brasilien-Metropole zum Worst-Case-Szenario. Heftige Kritik flammte auf, vor allem aus dem eigenen sportlichen DLV-Lager. Wer als deutscher Topathlet im Leben die oftmals sich nur einmalig bietende Chance habe, bei Olympischen Spielen für die eigene Nation an den Start zu gehen, dürfe aus dem Wettkampf kein egoistisches Happening machen, hieß es angesichts der objektiv recht schwachen Hahner-Leistungen. Im weiteren Diskussionsverlauf löste das geschwisterliche Shakehands dann eine wahre Hohn- und Spott-Lawine aus, immer wieder erregte das um die Welt gehende Fotofinish die Gemüter. Die Negativschlagzeilen kumulierten in der Ansicht, die Hahner-Twins hätten ihren Leistungseinbruch ganz bewusst medial ausschlachten wollen, um trotz der gezeigten Minderleistung für internationale Publizität zu sorgen und dabei auch ihre Popularitätswerte vor den heimischen Bildschirmen erhöhen zu wollen. Beim weltweit wichtigsten Wettkampfrennen alle vier Jahre, da könne man sich solche egozentrischen Gesten nicht leisten, lautete der überwiegende Tenor.

Rückzug in die Stille

Das war der Auftakt eines wahren Spießrutenlaufs. Viele Straßenlauf-Veranstalter nahmen in puncto Renn-Verpflichtung der bis dato als hochpopulär geltenden Hahner-Twins rasch Abstand. Nahezu synchron entbrannte eine Debatte über sportliche Wettkampfhärte, in die auch die erfolgreiche Sportsoldatin und Spitzenläuferin Sabrina Mockenhaupt mit harten Worten Stellung bezog. „Warum muss man mit aller Gewalt verkaufen wollen, dass man immer lacht und alles immer super ist?“, so „Mocki“, die weit über die Leichtathletik-Szene hinaus beliebte deutsche Langstreckenläuferin, die bereits selbst die vielschichtigen Höhen und Tiefen im Hochleitungssport Langstreckenlauf durchschreiten musste. Die massive Medien- und Kameradenschelte wirkte, zehrte an Anna Hahner wie an ihrer Schwester Lisa, die sich beide unverstanden fühlten. Hatten sie sich doch bei dem schlechten Rennverlauf nur gegenseitig unterstützen und das im Ziel mit ihrer Geste unterstreichen wollen. „Die negativen Äußerungen haben mich schon getroffen“, so Anna Hahner gegenüber dem Berliner Sportjournalisten Volker Schubert für Bundeswehr Sport-Magazin. Dann wurde es sehr still um die Hahner-Twins. Auch weil jetzt die verheerende orthopädische Diagnose für sportlichen Stillstand sorgte.

Achillessehnenanriss: Monatelange Auszeit

Schwerwiegend wirkten sich die negativen Folgen der komplizierten Beinverletzung vor allem auf den seelischen Zustand von Anna aus. Denn wegen der Sehnenverletzung konnte die quirlige Topläuferin nun fast ein halbes Jahr kein Lauftraining absolvieren. Dann kam das erste Herantasten. Sie habe von Anfang an keinen Schongang eingelegt, so Anna Hahner. Entweder die Verletzung sei ausgeheilt oder das war’s dann, denn vergleichbare Verletzungsmuster könnten jahrelange Probleme mit sich bringen – jedenfalls in Hochleistungsport Marathonlauf, wo die Topathleten unter Spitzenbelastungen um die 200 Trainingskilometer in der Woche abspulen müssen, um das gewünschte Niveau zu erreichen. Hopp oder top hieß also die Losung, die am Ende aufging. Mit Miniläufchen von Anfangs zehn Minuten ging es los. Die Sehne hielt und spielte auch bei den sukzessiven Umfangs- und Belastungssteigerungen mit. Dennoch, das Ausfallloch zu kompensieren war in der Kürze der Zeit bis zum geplanten Jahres-Highlight, dem fabelhaften Berlin-Marathon, nicht mehr möglich. Erst seit Juli konnte Anna Hahner wieder richtig trainieren, wie sie zu Bundeswehr Sport-Magazin sagte. „Es war ein sehr, sehr schwieriges Jahr für mich“, so die unbeugsame Ex-Sportsoldatin. Sie sei sogar in ein Kloster gegangen, um endlich tiefe innere Ruhe zu finden, gestand sie diesem Magazin weiter. Und so arbeitete sich Anna Hahner Laufschritt für Laufschritt und ohne zu hohe Erwartungen an sich selbst wieder kontinuierlich zurück – gewann an Tempo und steigerte die Wochenkilometer bis zum traditionellen Marathon-Sonntag am letzten Septemberwochenende in Berlin.

Mit Rückkehr in Demut zur Leichtathletik EM-Norm 2018 Berlin

„Ich will gesund und lächelnd ins Ziel laufen – dann wird die Zeit auch stimmen“, so die 27-Jährige vom Team RUN2SKY bei der Pressekonferenz des Veranstalters SCC-Events in der Hauptstadt. Ihr erster Marathon nach dem Medien- und Verletzungsdebakel nach Olympia, da wollte Anna Hahner bescheiden auftreten. Jedoch nicht ganz ohne Ehrgeiz, denn die Norm für die Leichtathletik-Europameisterschaften 2018 in Berlin wollte sie schon anpeilen. „2:32:00 Stunden sind schon ein Ziel“, unterstrich sie ihr Vorhaben. Druck machen, um ihre persönliche Bestzeit von 2:26:44 Stunden beim Berlin-Marathon 2014 anzugreifen, der stand definitiv nicht zur Debatte. Um in diesem Leistungsbereich mitzulaufen, fehlten ihr zu viele Trainingskilometer, wie sie ergänzte. „Die schlimmste Drucksituation war für mich, überhaupt fit und gesund bei einem Herbstmarathon an den Start gehen zu können“, so die bis dato Erfolgreichere der beiden Zwillingsschwes­- tern. Ihr Konkurrenzumfeld schien ohnehin übermächtig. Die Top-Favoritin dabei Gladys Cherono aus Kenia, die zwei Jahre zuvor mit der Berliner Weltklassezeit von 2:19:25 Stunden geglänzt hatte und weitere fünf Spitzenläuferinnen die Bestzeiten unter 2:24 Stunden vorzuweisen hatten.
Anna Hahners Rennkonzept setzte deshalb auf große Demut und zwei Binsenweisheiten, erstens: Horche in dich hinein, zweitens: Renne bloß nicht zu schnell los! Gefühl war ohnehin angesagt, denn das Marathonwetter präsentierte sich mit überaus garstigen Regenschauern und scharfen Winden.
Entsprechende Coolness bot Gladys Cherono, hielt sich zurück, um das Feld am Ende mit überlegener Siegeszeit von 2:20:23 Stunden zu dominieren. Knapp acht Minuten später überquerte Anna Hahner die Ziellinie, die fast gänzlich auf Zwischenzeiten gepfiffen hatte, außer bei Kilometer zehn und 21,1 riskierte sie ein kurzes Hinlinsen. Mit 2:28:32 Stunden, schnellste Deutsche sowieso, musste die gertenschlanke Hessin dann noch in den Sauseschrittmodus wechseln: „Ich wusste nicht, um welchen Platz wir sprinten“, so Hahner, die sich auf den letzten Metern vor der Italienerin Catherine Bertone durchsetzte und mit ihrem fünften Frauenrang als beste Europäerin gekürt wurde. „Es war ein Vergnügen heute, ich habe jeden Kilometer genossen. Ich bin total happy“, jubelte die beinharte Reservistin, die damit auch das DLV-Ticket für die Leichtathletik-EM 2018 kassierte.

Text und Fotos: Volker Schubert

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