Phänomen Sportsucht

BwSportM 01-2014_Sport&Sucht_Grafik (1)Sport tut gut, sagt die Medizin. Und das ist auch grundsätzlich richtig! Wird die individuell angemessene Dosis jedoch massiv überschritten, dann wird Sport zur Sucht. Wie der neurotische Zwang sein Geld am Spielautomaten zu verzocken, gehört die Sportsucht zu den neuen psychosozialen Phänomenen westlicher Massengesellschaften.

Wer kennt sie nicht, die Kameraden mit den hypertrophen Oberarmen, bei denen man augenscheinlich das Gefühl hat, dass die Körpersymmetrie im Verhältnis zur Wadenmuskulatur längst aus den Angeln geraten ist. Schaut man bei so manch muskelverliebten Bodystyler auf die zu Fleischbergen mutierten Bizeps-Volumina, müssten Weltklasse-Athleten, wie der Diskus-Olympiasieger und Sportsoldat Robert Harting, eigentlich vor Neid erblassen. Mit der Neuausrichtung der Bundeswehr und den vielen Standortschließungen, liegen einige Kasernen weitab vom Schuss des wahren Lebens. Fernab von Liebe, Freunden und Familie kann der Dienst in der Diaspora schnell einsam machen. Der Frust tut dann der Seele weh. Da hilft es durchaus, wenn man sich körperlich abreagieren kann. Sport ist ein gutes Rezept, um die angeknackste Psyche wieder ins Lot zu bringen, so könnte man meinen. Grundsätzlich ist das auch richtig so, dennoch steigt die Zahl der Fälle, bei denen Mediziner und Psychologen ein noch recht neues Phänomen diagnostizieren: Sportsucht!

Zwanghaftes Auspowern: Steigende Fallzahlen
Der Zwang, sich ständig auszupowern, ist mittlerweile zur statistischen Größe geworden. Zwar sind es unter der Gesamtheit aller in Deutschland Sporttreibenden derzeit nur gemessene ein Prozent, doch die Dunkelziffer liegt nach wissenschaftlicher Meinung weitaus höher. Dass es sich beim gesellschaftlich gerade zu manifestieren beginnenden Phänomen der Sportsucht nicht um eine randständiges Problem handelt, hat 2012 auch der Deutsche Olympische Sportbund erkannt, denn die soziale Neuerscheinung verortet sich auf drei definierten Ebenen. Dies haben die zwei namhaften Sportsoziologen Prof. Karl-Heinrich Bette aus Darmstadt und der Frankfurter Professor Robert Gugutzer bei ihren sozialwissenschaftlichen Studien herausgefunden. Nach Ansicht der Forscher war im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts innerhalb des Sports ein signifikanter Strukturwandel zu verzeichnen. Die Veränderungen hätten auf makrosozialer Ebene, also gesamtgesellschaftlich, stattgefunden und wären vor allem durch die flächendeckende Etablierung von Ausdauer- und Fitnessportarten erklärbar.

BwSportM 01-2014_Sport&Sucht_Grafik (2)Die „biographische Falle“
Neben dieser räumlichen Verortung sei das „soziale Phänomen“ Sportsucht ferner auf die Ausrichtung an kulturellen Leitbildern wie Leistung, Schlankheit und Schönheit zurückzuführen, deren reale Projektionsfläche sich vor allem auf der mesosozialen Ebene, hier ist insbesondere das betriebliche und schulische Umfeld gemeint, abspiele. Bei ihren Untersuchungen fanden die Sozialwissenschaftler gleichwohl heraus, dass die spätere Suchtkomponente auch mit den unmittelbar erlebten kindlichen wie jugendlichen Sozialisationserfahrungen einhergehe. Hier wäre die Rolle der Herkunftsfamilie als primäre Sozialisationsinstanz und das darin eingebettete sportliche Umfeld ein wichtiger Identitätsfaktor, so Bette und Gugutzer. Die Feststellung, dass es einen starken Zusammenhang zwischen der mesosozialen Ebene und Wechselbeziehungen mit dem mikrosozialen Kontext gebe, wodurch möglicherweise das Suchtpotenzial zum Aufleben gelangen kann, bezeichnet die Soziologie mittlerweile als „biografische Falle“.

Wie der Workaholic, verliert der Sportsüchtige jedes Maß für die individuell richtige Dosis. Das Gefühl, „ein Leben ohne Sport geht nicht“, wird zur alles bestimmenden Größe, die den Tagesablauf wie das Sozialverhalten dominiert. Vielleicht macht solche Sprücheklopferei, mal soeben zwischen Hantelsatz, Ergänzungsnahrung und Iso-Drink zu jenen Sportkameraden posaunt, die eher wie ein „dünner Hering“ aussehen, Eindruck – doch im Wirklichkeit kann exzessiv betriebener Sport tatsächlich zu starker psychischer Abhängigkeit führen. Kontrollverlust, gehört zu den grundsätzlichen Markern, die dieses Gesundheitsrisiko kennzeichnen. Während der Sportjunkie gegenüber seiner Umwelt behauptet, „ich muss mich täglich einfach richtig auspowern“, ist er hinsichtlich der Folgen blind. Die Sucht des Auspowerns ist eine Verhaltenskrankheit, die mit anderen Neuroseklassikern, wie der Kauf-, Arbeits- und Spielsucht vergleichbar ist.

Wenn Sport zum „Stoff“ wird
Denn, egal ob krank oder verletzt, der Sportsüchtige macht immer weiter – Hauptsache er bekommt „seinen Stoff“. So ist auch die Medikamenteneinnahme – beispielsweise die von Schmerzmitteln – beim Fortschreiten der Suchtdisposition zur echten Erkrankung weit verbreitet. Die gesundheitlichen Schäden zeigen sich zunächst zwar schleichend, doch der Leidensdruck wächst stetig: zieht das Immunsystem, die Sehnen, Knochen und Gelenke in Mitleidenschaft. Der Mensch macht schlapp, weil die Ruhepausen fehlen. Zwar ist Sportsucht noch kein Massenphänomen, aber der Trend nimmt zu. Denn sportlich fit und omnipotent leistungsfähig zu sein, gilt in der westlichen Hemisphäre als gesellschaftlich anzustrebender Wert. Das rangiert auch im engen Zusammenhang mit dem Sozialprestige, das Sport als idealisierter Imageträger genießt. So ist der Marathonlauf – in Wirklichkeit ein reiner Hochleistungssport und eben gerade nicht für jedermann geeignet – seit Jahrzehnten immer mehr zum gewinnträchtigen Volkssport arriviert.

Folge 30-jährigen Fitnessbooms
Während die Masse der Läufer im Vergleich zu den 1980-iger Jahren mit immer randständigeren Zielzeiten finisht, sind die Gewinnmarschen der Veranstalter, die regelmäßig mit kenianischen Eliteläufer frohlocken und sich dreister Weise die Topzeiten der Ausnahmeathleten als persönlichen Managererfolg ans Revers heften, signifikant gestiegen. Es lässt sich komfortabel leben im industriellen Sportgeschäft, weiß man auch in der pilzartig hervorsprießenden Fitnesslandschaft. In gut 6.500 kommerziellen Fitness-Studios treiben es rund sieben Millionen Menschen mit Hanteln und Kraftmaschinen oder „shapen“ ihren Body bei Aerobic, Spinning, Thai Chi & Co. Die Menschen suchen die Sportstudios auf, um der chronischen Langeweile, der Körperdistanziertheit und der alltäglichen Affektarmut zu entrinnen, was auch für die Fitnessstudios in der bundesdeutschen Kasernenlandschaft zutrifft.

Und hier gelten, losgelöst von jeglicher Hierarchie, andere, bisweilen fast archaische Gesetze. Wer sehr viel Sport treibt, zeigt Leistung und bekommt Anerkennung, heißt die klassische Formel üblicher Belohnungskonditionierung. Das Leben in dieser egalitär erscheinenden Parallelwelt führt oft zu nachhaltigen Vergemeinschaftungserlebnissen, die allzu oft dem verquasten Idealbild vom muskelbepackten Rambo-Krieger frönen. Hier geht es bald nicht mehr darum vom militärisch oft monotonen Berufsalltag abzuschalten, den Körper wieder (neu) zu spüren oder um gesundheitsaffine Lebensweisen, sondern ausschließlich um für jedermann gut sichtbare „Erfolge“. Die individual-genetische Körperoptik rückt in Konkurrenz zum angepeilten Körperideal. Ziel der aufopferungsvollen Figur-Performance ist die (Weg-)Modellierung der leiblichen Körperhülle und die Transformation in ein neues fleischliches Körperkleid. Zur Nachweisführung hart erzielter Körperoptikverbesserungen gilt nicht nur das soziale Gruppenlob als Erfolgsbarometer, auch der „unverfälschte“ Blick in den Spiegel scheint dafür prädestiniert, als unabhängige Kontrollinstanz zu fungieren.

BwSportM 01-2014_Sport&Sucht_Grafik (3)Permanent Residents: Vom Kraftsportler zum Studiobewohner
Zunehmend gerät der Faktor Zeit zur hinzu kommenden autorisierenden Ebene, denn die überambitionierten Ziele lassen sich ab einem bestimmten Zeitpunkt nur noch erreichen, wenn die Trainingseinheiten, deren Intensitäten und deren Dauer signifikant erhöht werden. Der Aufenthalt in den Muskelzuchtanstalten steht dann unbestreitbar im Zentrum aller persönlichen Aktivitäten. „Permanent Residents“ heißen die Studiobewohner in den USA mittlerweile, die bis zu drei Mal täglich an die schwergewichtigen Eisen müssen und dabei auch mal eine Nachtschicht einlegen. Hier erfährt der unter Gleichgesinnten arbeitende Körperperformer regelmäßig Zuspruch wie soziale Nestwärme.

Konsequente Fehlernährung
Wer sich so überintensiv, also sprichwörtlich mit „Haut und Haaren“, wie die Wissenschaft konstatiert, vorzugsweise im Variantenreichtum des Fitness- und Kraftsports exponiert, gilt schlussendlich als „hyperinkludiert“. Einen Summenstrich ziehend, definiert sich die Hyperinklusion durch die augenfällige Dysbalance zwischen dem zeitlichen Investitionsaufwand in punkto Trainingsgestaltung und dem für andere sozio-kulturelle Lebensbereiche, wobei das letztere Umfeld eine überdeutliche Reduzierung erfährt. Die Sozialkontakte richten sich immer drastischer auf die Personen im Fitness-Umfeld und deren gleichgelagerte Interessenslagen aus. Training, Ernährung und zusehends auch Doping dominieren den Terminkalender, weil sich im Sozialkontakt unter Gleichgesinnten alle ernährungs- und substitutionsbedingten Verhaltensauffälligkeiten leichter ausleben lassen und der permanente Rechtfertigungsdruck gegenüber des studiofernen Sozialumfelds entfällt. Überpedantisch achten die Körpermodellierer auch auf ihre Nährwert- und Kaloriengehalte, die ständig einer akribischen Überprüfung unterliegen. Fetthaltiges weicht Eiweißreichem und Kohlenhydrate werden ab einem erreichten Leistungsniveau komplett aus dem Ernährungsplan verbannt. Oft kommt es dabei aber auch schon zur Kompensation durch Prohormone, einer Vorstufe des Dopings.

Trend zu verbotenen Substanzen
Alles, was zuvor noch als der Gesundheitsorientierung dienende Ernährungsumstellung deklarierte wurde, mündet schließlich in den Vorzugskonsum von Substitutionsprodukten nebst Vitamin- und Mineralstoffpräparaten. Dabei können die Suchtpotentiale durchaus korrelieren und sich besonders in Bezug auf den exzessiven Kraftsport zur „klassischen Verhaltenssucht“ entwickeln und unter Berücksichtigung des Essverhaltens, zusätzlich in eine parallel etablierende „Biggerexie“ (auch Muskelsucht oder Adoniskomplex genannt) verwandeln.

Der sich immer weiter einschleichende Radikalisierungsprozess kann dann mit Blick auf das geradezu zwanghaft betriebene Hanteltraining sukzessive in eine Sportsucht münden – muss aber nicht, sagt der Sportmediziner und Oberstabsarzt der Reserve Dr. Robert Margerie. Dennoch gibt der routinierte Internist, Sport-, Rettungs- und Ernährungsmediziner vom renommierten Berliner Zentrum für Sportmedizin zu bedenken, dass statistisch gesehen rund 10 Prozent der Sporttreibenden innerhalb der Allgemeinbevölkerung gesundheitsbedenkliche, leistungsfördernde Substanzen zu sich nehmen und rund 30 Prozent der Fitnessstudio-Besucher dopen würden.

Dies hätten auch die clusteranalytische „KOLIBRI-Studie“ des Berliner Robert Koch Instituts von 2011 und eine weiterhin aktuelle Veröffentlichung des Deutschen Ärzteblatts von 2013 belegt. An einer bereits 1998 an 24 norddeutschen Fitnessstudios durchführten anonymen Befragung habe sich nichts geändert, weiß das Ärztemagazin darin zu berichten. Damals gaben 24 Prozent der Männer und 8 Prozent der Frauen an, anabol wirkende Medikamente zu sich zu nehmen. In 94 Prozent der Fälle hätte es sich dabei um potentiell hoch lebertoxische Substanzen gehandelt. Die verbotenen Substanzen hätten sich die Befragten hauptsächlich auf dem Schwarzmarkt besorgt. Doch das sind nur die offiziellen Zahlen, „denn wer gibt schon zu, dass er verbotene Substanzen einnimmt“, so Magerie.

„Anorexia athletica“
Der bewegungsfremden Moderne wollen auch viele Ausdauersportler und die Protagonisten sogenannten Ästhetiksports, wie beispielsweise Kunstturner oder Cheerleader, ein bewegungsakzentuiertes und körperlich anspruchsvolles Kontrastprogramm entgegenzusetzen, das in punkto Gesundheitsrisiko gelegentlich einen hohen Preis kostet. Denn neben der Erzielung sportartspezifischer Leistungsparameter, geht es parallel dazu um erhebliche Gewichtsreduzierung. So korreliert hier der Wunsch die Leistungssteigerung durch die Inkaufnahme von Gewichtsverlusten nachhaltig zu unterstützen, mit dem sich danach abzeichnenden Abrutschen in eine sich manifestierende Essstörung, die wissenschaftlich als „Anorexia athletika“ bezeichnet wird. Kommt es dabei zu Komplikationen, wie Knochenbrüchen, Herzüberlastungen und Organschäden oder zu gesundheitsschädigenden Kombinationen davon, neigen die Betroffenen tendenziell zur Verharmlosung und Verheimlichung. Die Suchtstörungen können solche Ausmaße annehmen, dass je nach Schweregrad, ein stationärer Klinikaufenthalt notwendig wird.

Selbstcheck hilfreich
Wer einen Selbstcheck durchführen will, der sollte sich fragen: Trainiere ich aus Lust oder quälendem Pflichtgefühl heraus? Versuche ich das Pensum ständig zu steigern, obwohl ich längst meine Grenzen spüre? Ist meine Sportfixierung so stark, dass sie mein ganzes Leben ausfüllt? Verspüre ich bei einer (verletzungsbedingten) Zwangspause Entzugserscheinungen, wie Stimmungsschwankungen, Schlafstörungen und Unruhe? Fakt ist, Sportsucht betrifft nicht nur junge und grundsätzlich agile Menschen, sondern auch die Generation ab 40-Plus. So kommt es zwischenzeitlich nicht mehr selten vor, dass auch in der Kohorte der 60-Jährigen exzessiv trainiert wird, um Berufs- und Karrierekrisen und die Angst vor dem Älter werden durch Extremsport zu kompensieren. Der Sport ist dann nur Mittel zum Zweck – dient dann dazu, das Selbstwertgefühl durch immer höhere Leistung als normenaffin zu bestätigen.

Stoffgebundene und Stoffungebundene Süchte
Mal mit und mal ohne Doping und mal mit gestörtem Essverhalten, die Sportsucht kennt unterschiedliche Fassetten, teils als „stoffungebundenes, teils als stoffgebundenes Suchterhalten“ und teils als aus der Kombination aller dieser Störungen bestehend. Wann eine Sportsucht einwandfrei diagnostiziert werden kann, ist von vielen Faktoren abhängig und individuell höchst unterschiedlich zu bewerten. Wie oft im Leben, auf die richtige Dosis kommt es an! Die liegt nach Empfehlung der Deutschen Herzstiftung bei drei bis maximal fünf wöchentlichen Trainingseinheiten, die jeweils einen Mindestumfang von 30 Minuten haben sollten. Auch intensives und hartes Training, etwa für einen Triathlon ist natürlich grundsätzlich erlaubt, sagt Bundeswehr-Reservemediziner Magerie.

Im Gegenteil, wer im Sport gelernt hat Leistung, Selbstdisziplin und Zeitmanagement unter einen Hut zu bringen, ist potentiell auch im außersportlichen Bereich erfolgreich. Und auch dies mag beruhigen, denn nicht jeder Erwachsene tappt quasi automatisch in die biografische Falle, wie die neuesten Ergebnisse der Resilienzforschung, die sich mit der Widerstandsfähigkeit der kindlichen Seele und der erfolgreichen psychischen Bewältigung von erlebten Kindheitstraumata beschäftigt, belegen. „Entscheidend ist, ob mit dem vermeintlich hohen Bewegungsdrang ein massiver Kontrollverlust einhergeht, erst dann besteht Suchtgefahr, so Magerie mahnend, der selbst ambitionierter Langstreckenläufer ist und sich gerade wissenschaftlich dem Gesundheitsthema „Kraft- und Ausdauersport im Alter“ widmet.

Text&Grafik: Volker Schubert

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