Über die spiegelblanke, fast blütenweiß glänzende 500-Meter-Runde ist er der deutsche Rekordhalter. 34,64 Sekunden schlugen da im Januar 2013 im US-amerikanische Salt Lake City zu Buche, als er zu seiner bisherigen Bestzeit sprintete – eine echte Fabelzeit, denn der mit 34,03 Sekunden nun gut sieben Jahre alte Weltrekord des Kanadiers Jeremy Wotherspoon erscheint dabei durchaus in Reichweite. Deutschlands Blitz auf dem Eis trägt Rennschlittschuhe mit holländischen Spezialkufen, ist 29 Jahre alt und aktuell der Beste, den die Weltexportnation, die sich wegen der historisch gebotenen Zurückhaltung militärisch aber stets als Mittelmacht positioniert, im knallharten Wintersportranking aufzubieten hat. Nico Ihle heißt der explosiv startende Sachse, der aus der sozialistischen Erzgebirgsmetropole Karl-Marx-Stadt stammt, die heute gottseidank wieder Chemnitz heißt.
Wenn er nicht im Berliner Olympiastützpunkt in der ehemaligen DDR-Sportkaderschmiede, dem Trainingszentrum in Hohenschönhausen trainiert, ist der Zeitsoldat von der Sportfördergruppe der Bundeswehr in Frankenberg durchaus heimatverbunden. Winterreisen gehören für den taffen Kufenflitzer trotz seiner sächsischen Verortung regelmäßig zum Geschäft – immer dann, wenn es zu Olympischen Winterspielen, zu Weltmeisterschaften oder zum Weltcup geht. In den globalen Spitzenevents gehört Nico Ihle längst zum sportiv nicht wegzudenkenden Inventar. So hat sich der Chemnitzer Ausnahmeathlet seit 2010 nun beständig unter den Top-Ten in der Schlittschuh flitzenden Weltspitzenequipe eingerichtet.
Wenn er für Deutschland antritt, trägt er den schnittigen Renneinteiler mit den unverkennbar cool drapierten Nationalfarben. Und der sieht richtig aggressiv aus: Kein Wunder, denn der Träger, dessen Gesicht da aus der stromlinienförmig integrierten Kapuze schaut, ist bis auf die Zehenspitzen durchtrainiert. Nico Ihle heißt das Kraftpaket, das da in der Edelkollektion steckt und das mit seinem angriffslustig kolorierten Design von der Farbegestaltung her durchaus etwas Wespenartiges verkörpert. So passt das kämpferische Outfit auch wie maßgeschneidert zu der Sportart für die Nico Ihle antritt – Eisschnelllauf, die 500 Meter und die 1.000 Meter-Distanzen sind dabei seine Spezialdisziplinen. Da geht es im hartgefrorenen, spiegelglatten 500-Meter-Rund der weltweiten Eisschnelllaufbahnen innerhalb der Spitzenelite ausschließlich um hauchdünne Hundertstel. Nach dem Startschuss dauert es nur wenige Dutzend an Sekunden, wie im Fluge ist das Finish dann erreicht. Und so liegen Sieg und Niederlage naturgemäß auch nur um Haaresbreite auseinander.
Reihenweise Top-Ten-Platzierungen einkassiert
Einer den ganz wenigen Deutschen, die die pfeilschnelle Kufenjagd mit der Stoppuhr nahezu perfekt beherrschen, heißt Nico Ihle. Der Zeitsoldat von der Sportfördergruppe der Bundeswehr im sächsischen Frankenberg, der für die heimatliche Chemnitzer Skater Gemeinschaft (CSG) startet, ist deshalb auch im Nationalkader der Deutschen Eisschnelllauf-Gemeinschaft (DESG) und aktuell deren verbandbestes Aushängeschild. Kein Wunder, denn der 1985 im damals noch streng sozialistisch umgewidmeten Karl-Marx-Stadt Geborene, steht seit 2010 im internationalen Eisschnelllauf-Rampenlicht. Das schaltete sich im kanadischen Vancouver schon recht hell ein. Wohl auch, weil der Chemnitzer damals als olympischer Winterspiel-Debütant für Deutschland an den Startplatz ging. Eine Premiere übrigens, die über die schnellen 500 Meter mit dem 18. Rang endete. Schon in der Saison 2010/2011 ging es deutlich weiter aufwärts. Der Weg führte zum weltweiten Top-Ten-Einmarsch, als Nico Ihle bei den Weltmeisterschaften den zehnten Rang erzielte, beim Weltcup Top-Five-Plätze belegte und beim Gesamtweltcup Elfter über 500 Meter und Neunter über 1.000m Meter wurde.
Mit Holzmedaille in Sotschi
Weitere überaus achtbare Platzierungen folgten in der Saison 2013/2014, als er ebenfalls ausschließlich unter den Weltbesten zehn Eisschnelllauf-Athleten landete: In der deutschen Hauptstadt realisierte Nico Ihle beim Weltcup dann den achten Platz über 1.000 Meter und den zehnten Rang über 500 Meter, während er beim Weltcup-Rennen in Erfurt bereits die Bronzeplatzierung erstritt. 2014, im russischen Sotschi bereits zum zweiten Mal bei den Olympischen Winterspielen am Start, räumte Nico Ihle zwar kein Edelmetall ab, zeigte aber mit Rang vier über 1.000 Meter und Rang acht über die 500 Meter dennoch Beachtliches. Und so kennen ihn seine engste Fans und Mitstreiter. Das sind die, die dem sympathischen Topathleten gerne in die weltweiten Eissportarenen folgen: Gleich legt Nico Ihle los; erst Startposition, dann volle Konzentration, sämtliche Muskelfasern leicht vorgespannt meint man dabei sprichwörtlich mitfühlen zu können. Die Stimmung entsprechend knisternd, liegt Dramatik pur in der Luft, wenn der Chemnitzer auf den ohrenbetäubenden Startschuss wartet. Bevor Deutschlands bester Eismann losdonnert, zieht er stets den rechten Schlittschuh an – intime Kenner wissen das. Dann wird mit den Beinen heftig getrommelt. Mit einem kurzen, aber gewaltigen Stakkato bringt der mehrfache Deutsche Meister seine geballten 88 Kilogramm Muskelmasse dann auf seine maximale Renngeschwindigkeit.
Über mediale Geldkicker-Dominanz verärgert
Allerspätestens seit Sotschi ist Nico Ihle eine der ganz großen Hoffnungssterne am deutschen Eisschnelllaufhimmel. Das hat natürlich auch mit seinem unbändigem Trainingsfleiß zu tun. So wickelt der Sportsoldat ein wöchentliches Pensum ab, bei dem so mancher von Jogi Löws medien-gepämperten Millionärskickern rasch in die Knie gehen dürfte. Um die Weltklasseleistungen möglichst wettkampfgerecht abrufen zu können, steht Nico Ihle natürlich nicht nur auf dem Eis. Das volle Programm, das sind für den blitzschnellen Sachsen immer wieder auch harte Krafttrainingseinheiten, ein schnelligkeitsförderndes, leichtathletisches Lauftraining, kreislauffordernde Rennradausfahrten und gezielte Sportmaßnahmen mit den schlittschuhähnlichen Inlineskates.
Zum Spitzentraining nach Berlin
Ganz alleine ist der deutsche Rekordmann, der übrigens auch die nationalen Bestmarken über 2 x 500 Meter und im Sprintwettkampf (2 x 500 Meter und 2 x 1.000 Meter) hält, gottseidank nicht. Regelmäßige Begleitung ist ihm dabei Bruder Denny, der ebenfalls ein sehr talentierter Eisschnellläufer ist. „Ganz allein würde ich es vielleicht nicht so weit schaffen. Ich brauche jemanden, der der mich fordert“, so der Chemnitzer. Die Brüderlichkeit endet allerdings direkt an der Startlinie: „Bis zu Startschuss sind wir ein Team. Danach kämpft jeder für sich“, sagt Nico Ihle mit dennoch warmherzigen Unterton.
Eisschnelllauf: Hochkomplexe Spitzensportart
Eisschnelllauf bedeute aber nicht nur hohe Aktionsgeschwindigkeit in kurzzeitig streckengerichtete und kurvenstabile Explosivität umzusetzen, sondern verlangt auch ein gerütteltes Maß an technisch-koordinativem Geschick. So ist Eisschnelllauf jene disziplinspezifische Wintersportart, bei der der eigene Körper ohne Hilfsmittel die maximale Geschwindigkeit produziert. Trotz dieses überaus spannenden Alleinstellungsmerkmals, findet Eisschnelllauf hierzulande viel zu wenig an Beachtung. Nico Ihle schaut dabei schon etwas geknickt auf holländische Verhältnisse, wo die höchst temporeiche Wintersportart als Volkssport gefeiert wird und tausende Fans und Zuschauer in die Wintersportarenen strömen. Dass das ewige Geldkickern der Bundesliga-Hätscheltruppe immerzu wie Mehltau über die Bildschirme flimmert, findet Nico Ihle deshalb gar nicht gut.
Auf hauchdünnen Kufen in die Weltelite
Wohl auch, weil sich die medial herbeigeführte Außenseiterrolle des Eisschnelllaufs auch massiv auf die Trainingssituation auswirkt. „Leider findet der in Sachsen längst nicht die Beachtung wie Fußball“, konstatiert Nico Ihle die vom Fernsehecho her oft mit Ignoranz gescholtene Einmaligkeit seiner Sportart. So sind die Trainingsbedingungen für Eisschnellläufer in Chemnitz oftmals auch so stark eingeschränkt, dass Nico Ihle viele seiner athletischen Vorbereitungen am Berliner Olympiastützpunkt in Hohenschönhausen trifft. „Dort sind einfach die Bedingungen günstiger. Alles ist moderner und das Eis funktioniert auch bei 30 Grad Außentemperatur“, so der Sportsoldat etwas enttäuscht.
Und das, obwohl der sportliche Sachse schon seit 20 Jahren auf der Eisschnelllaufbahn in Chemnitz quasi wie zuhause ist. So treffen die guten Eisbedingungen in Berlin auch auf optimales Trainingsgerät, dass Nico Ihle regelmäßig an den Füssen trägt. Denn die Kufen seiner Eisschnelllauf-Spezialschuhe sind extra in der Eisschnelllaufnation Nummer eins, und damit natürlich in Holland, gefertigt worden. „In ihnen steckt jede Menge Forschung. Nur 1,1 Millimeter breit, müssen sie in den Kurven – hier ist die Fliehkraft am größten – über 62 Stundekilometer aushalten“, sagt Nico Ihle mit sichtlichem Stolz in der Stimme.
Nach Heerenveen-Debakel ungebeugt
Anfang Februar 2015, die Eisschnelllauf-Weltmeiserschaften im niederländischen Heerenveen, sollten für Nico Ihle eine erneute Chance für eine ganz große Eissprint-Gala werden. Da sollte es für den 29-Jährigen erstmals den international immer wieder erhofften Medaillensegen geben. Mit zuversichtlichem Auftakt am ersten Tag, bilanzierte der Chemnitzer, dass er über die 1.000 Meter „mit der Zeit zufrieden“ sei, „aber mit dem Platz nicht“. Doch am letzten Tag der Entscheidungen wollte es einfach nicht gelingen. Mit 35,34 Sekunden und 35,42 Sekunden um knapp eine Sekunde deutlich langsamer als die schärfsten Konkurrenten aus Kanada, den Niederlanden und aus Russland, bilanzierte der Sachse geknickt, dass er „eine Breitseite kassiert“ hätte. Der abschließende 13. WM-Rang war dann auch entsprechend ernüchternd, denn der Sportsoldat war mit zuvor guten Saisonplatzierungen angereist. Er sei „Nicht locker“ gewesen und „sitzen geblieben“, wie Eisschnelllaufexperten die den völlig verpatzten Start kurz danach kommentierten. So hatte der CSG-er beim Weltcup eine Woche zuvor an gleicher Stelle noch drei dritte Plätze erstritten. „Das Eis war klasse, aber wir konnten das nicht zu unserem Vorteil nutzen“, meinte der mehrfache deutsche Meister schließlich und schaute dabei auch schon wieder nach vorne. Vorn, das war zu diesem Zeitpunkt die Ende Februar anvisierte Sprint-WM im kasachischen Astana, denn auch nach dem Fehlschlag wollte sich der sächsische Eissprintkönig nicht entmutigen lassen.
Sprint-WM Astana
In Astana schien dann endlich einmal alles ganz nach dem zuvor antizipiertem WM–Fahrplan zu verlaufen. Die Sprint-Weltmeisterschaft im Kasachstan war für Nico Ihler überhaupt so eine herzergreifende Megaatmosphäre. Schon die ganze Architektur der riesigen, topmodernen Eisschnelllauf-Arena ließ bei Nico Ihle intensive Dauergänsehautgefühle aufkommen. Der in Astana ausgebrochene Bauboom hatte für die optimale Eissport-Halle gesorgt, in der Nico Ihles 31 Konkurrenten auf überdimensionierten Großbildschirmen die lückenlos die Rennverläufe per Nonstop-Videoclips abrufen konnten. Und so verlief sein erster Tag dann auch überaus optimal. Da hagelte es sowohl über die 500 Meter als auch über die 1000 Meter jeweils persönliche Saisonbestzeiten. Besonders beeindruckend war das 1.000 Meter-Rennen anzuschauen. Ein wirklicher Superlauf, bei dem Nico Ihle ein spannendes Duell mit dem extrem schnellen Niederländer Hein Otterspeer bot und in tollen 1:09,10 Minuten finishte.
Topsprintserie vorgeführt
Damit gehörte Nico Ihle auf einen Schlag zum vielzitierten Favoritenkreis. Doch schon im WM-Vorfeld hatte der Weltverband ISU auf den sprintstarken Chemnitzer aufmerksam gemacht: Nico Ihle „has been very strong“, hieß es da ganz offiziell. Und auch Trainer wie Fans befanden, dass sich der 29-Jährige auf den Punkt genau topfit präsentiert hatte. Via Internet postete Sportsoldat Ihle dann am Abend: „Ich bin mit beiden Rennen sehr zufrieden, werde voll angreifen.“ Die elektronischen Antworten ließen nicht lange auf sich warten und signalisiert unisono, dass auch in der intensiv mit fiebernden Heimat großes Wohlwollen in der Luft lag. Und genau solche Katapultstarts wollte Sachsen Eisflitzer auch am Folgetag hinlegen. Doch trotz der exklusiven Ausgangsposition für den zweiten, den entscheidenden WM-Tag, quoll Nico Ihle ganz plötzlich das barsches Entsetzen ins Gesicht. Startverbot hieß es dort plötzlich unmissverständlich, was keiner nachvollziehen konnte. Was folgte, waren großes Kopfschütteln und tiefe Verzweiflung. Der Grund: Nico Ihle sollte angeblich die Startlinie um eine Winzigkeit touchiert haben, wurde vom Kampfrichter da mit aller Schärfe moniert. Und das war beim zweiten 500-Meter-Lauf geschehen. Hatte zunächst der Kanadier Laurent Dubreuil einen Fehlstart produziert, pfiff der Kampfrichter dann erneut und schickte den Chemnitzer Hauptakteur plötzlich Richtung Bande.
Böse Fehlentscheidung: Bittere Pille Disqualifikation geschluckt
Was offensichtlich eine glatte Fehlentscheidung war, wie die intensive Nachrecherche sämtlicher Fernsehaufzeichnung kurz danach ergab. „Das kann doch nicht wahr sein, dass dies so streng gesehen wird. Ich hätte doch überhaupt keinen Vorteil gehabt, selbst wenn die Kufenspitze die Linie berührt hätte“, so Nico Ihle erschrocken, der, wie ebenso Experten, kein wirkliches Verschulden erkennen konnten. Doch anders, als mittlerweile in manchen Sportarten unter Protest und per Videobeweis auch nachträglich möglich, gilt im Eisschnelllauf der Richterspruch als unmittelbare Tatsachenentscheidung. „Das ist der schlimmste Moment meiner Karriere“, so das bittere Fazit des Chemnitzers. „Ich lag ganz klar auf Medaillenkurs. Die Chance war so groß, ich musste doch eigentlich nur laufen.“ Entgegen der so geplatzten Medaillenträume will der unbeugsame Topathlet, seine nächsten Riesenchancen dennoch nutzen. Auch sein 63-jähriger Heimtrainer, der langjährige Eisschnelllauf-Routinier Klaus Ebert, zeigte sich schockiert: „Ich bin einfach sprachlos, das ist so bitter für ihn, eine ganz harte Regelauslegung. Und ich kann nichts sehen, was er falsch gemacht hat“. So eine Fehlentscheidung bei einem Top-Event habe er noch nie erlebt.
Olympiakurs 2018
Da wo die Welteislaufelite im Zeitfinale regelmäßig in der Taktfrequenz eines Wimpernschlags beisammen liegt, ist naturgemäß immer auch ein kleines Quäntchen Glück dabei, wenn die Eisschnellläufer bis zur Ziellinie immer wieder beinhart um Sieg, Treppchen-Platzierung oder Holzmedaille fighten. Nico Ihle, der routinierte Vollprofi, weiß das nur zu genau. Aller vermeintlichen Niederlagen zu Trotze, der Blick nach vorne scheint Nico Ihle nie versperrt: Denn seine ganz große Zielmarke ist klar das Jahr 2018. Dafür kribbelt in Deutschlands stahlhartem Sachsen-Blitz schon jetzt Edelmetallwitterung in der Nase. Mit dem Flieger geht es dann zu den XXIII. Olympischen Winterspielen nach Südkorea. Dort, im Austragungsort Pyeongchang, liegt für den psychisch robusten Sportsoldaten dann erneut reichlich Medaillengeruch in der Luft.
Text: Volker Schubert
Foto: DESG