Von Ulm über Zürich nach BerlinIm ultimativen Höher, Schneller, Weiter sind sie die deutschen Stars und Sternchen: Die Wurfgiganten, die Überflieger, die Sprintstarken. Sie heißen Dilla, Harting und Kosenkow, Reuß und Schwanitz.
Trotz aller physiologischer Differenzen, die die sportiven Spitzenkönnern kennzeichnen, eines vereint die exzellenten Disziplinspezialisten, die sich – weitab vom überbordenden Kicker-Hype – wie magisch von der Faszination der olympischen Kernsportart Leichtathletik angezogen fühlen, dennoch: Sie sind allesamt Sportsoldaten der Bundeswehr, tragen also regelmäßig Flecktarn – jedenfalls auf dem Papier. Denn ihr Lebensmittelpunkt, das ist in Wirklichkeit der klassische Sportplatz mit der heimischen 400 Meter-Bahn. Von dort aus drängt es die Militärathleten in Welt der Stadien. Der Berliner Sportjournalist Volker Schubert blickt noch einmal auf die diesjährige Medaillenjagd und ausgewählte Freiluftevents zurück. Sein Fokus beim Saisonrückblick reicht von Ulm über Zürich bis Berlin; streift dabei nationale wie internationale Leichtathletik-Zirkuswelten.
Leichtathletik-Zirkus 2014, Ladys first. Dass der Weg zum Ruhm oft steinig und rau ist, davon kann die Chemnitzer Kugelstoßerin Christina Schwanitz nicht nur Lieder, sondern mittlerweile ganze Opernarien trällern: So musste die wurfgewaltige Sächsin zunächst einen Großparcours medizinischer Hindernisse überqueren. Zur schließlich Gold frohlockenden Impulsfreisetzung ging es mehrfach zum Chirurgen. 2014 war es dann endlich soweit. Christina Schwanitz konnte ihren rechten Wurfarm mit geballter Power vorschnellen lassen – was in Zürich schließlich in einen Gewaltakt ungestümer Kraftentfaltung mündete. Dem Jahr des Durchbruchs gingen Zeiten voraus, in denen sie ständig unterm Messer lag. Insgesamt sieben Fußoperationen musste die 28-Jährige über sich ergehen lassen. „Seit die Ärzte alles Metall aus meinem Körper heraus geholt haben, kann ich endlich wieder schmerzfrei laufen, richtig trainieren“, so die unbeugsame Kugelstoßerin bei der ISTAF-Pressekonferenz Ende August in Berlin. Seitdem die Zeiten, als sie regelmäßig unterm trennscharfem Chirurgenstahl lag, nun definitiv passé sind, macht der kraftvollen Sportsoldatin Leistungsport „nun wieder Spaß“, wie die gebürtige Dresdnerin immer wieder öffentlich betont. Für den Erfolg ist auch ihr Trainer Sven Lang verantwortlich, bei dem sie, wie Deutschlands bester Kugelstoßer, der Polizeibeamte David Storl, seit 2009 so zielgerichtet trainiert.
Christina Schwanitz, die Chemnitzer Gold-Kanone
Dem Kugelstoßen gehöre ihre ganze Liebe, sagt sie, als sie kleine Einblicke in ihr tägliches Sportpensum und ihre Trainingsakzentuierung liefert: „Ich finde den Mix aus Technik, Kraft und Geschwindigkeit genial. Ein Kugelstoßer muss in jeder Situation wissen, was jeder Muskel seines Körpers macht und dann explodiert alles auf einmal“. Im Gespräch weiß die Sportsoldatin, die ihre Leistungen meist punktgenau abruft, durchaus zu begeistern – lächelt verschmitzt, witzelt herum und steckt ihre Umgebung mit ihrer impulsiven Sportbegeisterung förmlich an. „Mit meinem ersten großen Titel hole ich mir die Früchte des jahrelangen Trainings“, freut sich die sympathische Leichtathletin, wenn sie auf ihre diesjährige Werfer-Saison zurückschaut. In Ulm, bei „den Deutschen“, wo sich Christina Schwanitz mit 19,69 m im Juli klar den nationalen Titel sicherte, war die zielstrebige Athletin, die auf eine Bestmarke von 20,41 m blickt, dennoch nicht vollends zufrieden. Natürlich orientiert sich ihre Vorstellung stets am persönlichen Potential – und das zählt für sie selbstverständlich nur jenseits der 20 Meter. Die erzielte sie im Mai mit 20,22 m, als sie sich zur unumstrittenen Nummer eins in Europa katapultierte. Dementsprechend verständlich klang ihr EM-Wunsch für Zürich: „Ich wünsche mir Gold.“ Und der ging in Erfüllung, denn beim Jahreshöhepunkt in der Schweiz, stieß die Militärathletin 19,90 m – eine aus ihrer Sicht allenfalls akzeptable Weite.
2015: WM-Duell in Peking im Visier
Im Olympiastadion Berlin, beim ISTAF, einer ihrer vorfinalen Saisonstationen, wurde Christina Schwanitz abermals Siegerin. Die im Hauptstadt-Edeloval neben der legendären blauen Kunststoffbahn gestoßenen 19,53 m wären ihr schwer gefallen, sagt sie. Auch der Kitzel fehlte, aber der Wille zum Sieg sei ungebrochen gewesen. Viel Mühe bereitete der Kugelstoß-Europameisterin vor allen die Russin Jewgenija Kolodko, die beim fünften Versuch überraschend vorn lag. Das Publikum habe sie so massiv motiviert, dass sie im letzten Versuch über sich hinauswuchs und komfortable zehn Zentimeter zulegte. Mit den Großevents in Brüssel, Minsk und Marrakesch im September beendete die „Züricher Goldwurfsoldatin“ jetzt ihre leichtathletische Zirkusreise. 2015 fest im Visier, schaut die rastlose „Chemnitzer Wurfkanone“ bereits auf neue Kicks: Im nächsten Jahr will die Topathletin ihre Lieblingsgegnerin, die Neuseeländerin Valerie Adams, bezwingen. „Sie möchte ich schlagen, dafür trainiere ich jeden Tag. Ich möchte besser sein als sie und die Beste der Welt sein“. Der Megaevent für das Duell steht auch schon fest: Die Leichtathletik-WM 2015 in Chinas Boomtown Peking wird es sein.
Rekordknacker Reus. Bald ein Armin Harry des 21. Jahrhunderts?
Was für ein Jubel, was für ein Rennen – wie eine Erlösung wirkte der Siegeslauf des deutschen Sprinterasses Julian Reus da mitten im Juli im nahezu ausverkauften Donaustadion. Was war geschehen? Ulm, Deutsche Leichtathletik-Meisterschaften, Männer, die legendäre 100 m Kurzdistanz: Der Start zum Zwischenlauf von Deutschlands schnellsten Männerbeinen war in vollem Gange. Raus aus den Blöcken, in zehn Sekunden mit dynamischer Vollkraft durchstarten, das kurzweilige 100 m Programm runter hämmern. „Heute geht es rund“, verkündete Sportsoldat Julian Reus kurz zuvor auf Facebook – keineswegs vollmundig, keine Phrase, wie sich rasch zeigte! Schließlich hielt der 26-Jährige Wattenscheider Wort, denn so schnell war noch kein deutsches Sprinterass gerannt. 10,05 sec zeigte die Zeittafel am Ende. Deutscher Rekord! Und was für einer: Mit 1,8 m zulässigem Rückenwind pro Sekunde, lief der Wattenscheider über die 100 m nicht nur so schnell wie nie zuvor, er ließ es auf den letzten Metern sogar noch lässig austrudeln – was für eine Verschwendung, so könnte man meinen.
Wahnsinn: Ausgetrudelte 10,05 Sekunden
„Der Rekord war vor diesem Lauf gar nicht präsent für mich. Ich bin ziemlich baff“, so seine Kurzanalyse. Auf die Frage, ob er sich nicht ärgere, dass er letztlich nicht mit voller Kraftkonzentration durchgezogen und so eine noch bessere Zeit verschenkte habe, antwortete der Rekordknacker: „Diese Gedanken mache ich mir nicht.“ Die deutsche Sportgeschichte, die Reus damit schrieb, ist durchaus als legendär. Denn mit den 10,05 sec brach Reus den Uralt-Rekord über 10,06 sec. Den hatte der Magdeburger Frank Emmelmann 1985 erzielt. In Ulm sorgte Reus dann auch gleich für eine weitere fulminante Überraschung: Im Endlauf ließ es der überaus athletisch wirkende Sportsoldat dann nochmals krachen. Das Donaustadion taumelte dabei erneut vor Jubel. Im Finale lieferte sich Reus mit dem Berliner Lucas Jacubczyk ein absolut packendes Duell. Ein echtes Kopf-an-Kopf-Rennen, in dem beide mit windunterstützen 10,01 sec gestoppt wurden, war da zu sehen. Erst das Fotofinish brachte die Auflösung: Gold für den Wattenscheider mit dem besseren Ende, Silber für Jacubczyk, dem bis dato Zeitjahresschnellsten. Die 2,2 m Rückenwind pro Sekunde waren dabei der Wermutstropfen, denn so konnte die Zeit nicht als neue Bestmarke toppen. „Ich hatte nach dem Deutschen Rekord im Halbfinale viel zu verlieren“, gestand Reus nach dem Rennen. Der Start neben Jacubczyk habe ihn total aufputscht, gab der Rekordmann dann weiter zu.
Schlüsseljahr 2011. Grundsteinlegung für den 100 Meter Sprint-Rekord
Ein Rennen zudem, das mit Blick auf die anstehende EM in Zürich beim Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) tüchtig aufhorchen ließ – Medaillenfieber machte sich breit, denn die rekordgültigen 10,05 sec bedeuteten schließlich Rang fünf in Europa. Zwar überaus freudig gestimmt, präsentierte sich Militärsprinter Reus dennoch realistisch. „In Zürich zählt die Zeit von heute nichts. Da muss es zünden“, so der frischgebackene Rekordhalter im Ulmer Oval. Reus‘ momentane Form, die absolut exzellent sei, wäre auf gravierende Trainingsveränderungen im Jahr 2011 zurückzuführen, ließ der DLV dazu wissen. Damals sei der Grundstein für den Sprint-Erfolg gelegt worden. „Da wurde analysiert, was wir ändern müssen, um noch stärker zu werden“, so Reus. Zu den Neuerungen habe das lang andauernde Sprinter-Trainingslager im US-amerikanischen Florida gleich zu Beginn des Jahres gehört. „Da sind die klimatischen Bedingungen einfach deutlich besser als in Deutschland“. Das aktuelle Ergebnis sei auf die Summe aller Neuerungen im Zusammenspiel von Verband, Athleten, Trainerteam und Physiotherapeuten zurückzuführen, so der DLV.
Kurvenexperter Alexander Kosenkow, der Züricher Silberbarren
Im Züricher Letzigrund blieb dem Wattenscheider der EM-Sprintsieg allerdings versagt. Knieproblemen folgte die große Verunsicherung – das Medaillenaus! Im 4-x-100 m Team, am letzten EM-Wettkampftag, konnte Reus die Schmerzen ausblenden und sich mit seiner EM-vorlaufschnellsten Staffel knallhart durchbeißen. Um gegen die international mächtige Konkurrenz aus England zu bestehen, war auch der unverwüstliche Sprint-Oldie Alexander Kosenkow an Bord der Nationalstaffel. Dem Sportsoldaten und Volksdeutschen, der aus Kirgisien stammt, gelang ein beeindruckender Kurvenlauf. Mit 38,09 sec verfehlten die vier Deutschlandsprinter den nationalen Rekord um winzige sieben Hundertstel. Ein Rennen das sich für den 37-jährigen Wattenscheider fast wie der EM-Sieg anfühlte: Man habe nicht Gold verloren, sondern Silber gewonnen! „Wir haben einen super Job gemacht mit unserer Zeit nah am Deutschen Rekord““, so Kosenkow, der noch bis weit übers 40-igste Lebensjahr sprinten will, überglücklich.
„DER HARTING“ – Wurfgigant der Extraklasse
Auch für den Berliner Diskuswurfgiganten, Robert Harting, verlief die EM-Saison nahezu maßgeschneidert. Deutscher Meister von Ulm sowieso, bot der 29-jährige Sportsoldat – amtierender Weltmeister und Olympiasieger – mit dem unstillbaren Goldhunger im Züricher EM-Wurfkreis eine One-Man-Show der Extraklasse. Ein Start-Ziel-Sieg, denn sein Erzrivale, der bärenstarke Este Gerd Kanter (EM-Silber, 64,75 m), konnte zu keinem Zeitpunkt kontern. Harting, der beim ersten Wurf gleich 63,94 m vorlegte, siegte schließlich unangefochten mit 66,07 m. Dennoch, für Harting kein Riesenjubel, der sein Ziel, den EM-Rekord von 2010 über 68,87 m zu knacken, klar verfehlte. Und so warte das Publikum auf die weltbekannte Hartinggeste vergeblich. Das DLV-Trikot blieb ganz! Zur Medienshow kam es dennoch, als der DER HARTING eine Kuschelbodenkür vom Feinsten hinlegte und auf dem roten Hochleitungskunststoff rollend sein Sporthemd herzte.
Quadriga-Überflieger Karsten Dilla
Er habe mit 5,30 m und weichem Stab tief angefangen, so Karsten Dilla, der Leverkusener Stabartist, mit einer Besthöhe über 5,72 m. Übersprungene 5,50 m reichten dem 25-jährigen Sportsoldaten fürs Züricher EM-Finale. Doch beim Medaillen-Fight lief nichts mehr – Winde, Technikprobleme, Dilla wurde mit 5,40 m enttäuscht EM-Neunter. „Pech gehabt“, kommentierte er nüchtern. Eine Glanzvorstellung bot Dilla Ende August an der Spree, wo er bei „Berlin fliegt!“, quasi übers Brandburger Tor hüpfte. In der Hauptstadt trugen seine gut taxiert geflogenen 5,50 m zur Top-Bilanz des DLV-Teams bei, das nun schon, nach 2011 und 2012 zum dritten Mal gegen die Weit- und Stabhochsprungkonkurrenz aus Frankreich, den USA und Russland siegen konnte.
Autor: Volker Schubert / Fotos: Volker Schubert
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