Interview mit Dr. Annika Wing Quereinstieg im Rudern
Im Januar 2015 fand in Hannover eine Zukunftswerkstatt des Deutschen Ruderverbandes (DRV) zum Thema „Nachwuchsleistungssport“ statt, bei der unter anderem über das Thema Quereinstieg in den Ruderleistungssport gesprochen wurde. Die Teilnehmer wünschten sich vom Deutschen Ruderverband auch international bereits erfolgreiche Programme auf eine Umsetzbarkeit in Deutschland zu überprüfen. Dr. Annika Wing, die Leistungssport-Referentin des Deutschen Ruderverbandes berichtet im Interview mit dem Bundeswehr Sport-Magazin über ihre Erfahrungen mit Talent Transfer-Systemen in England und das Pilot-Projekt „Train2Win“, welches seit Oktober 2014 mit Unterstützung der Niedersächsischen Lotto-Sport-Stiftung in Hannover läuft.
Frau Wing, Sie sind Leiterin des Pilotprojekts „Train2Win“ in Hannover. Was steckt hinter dem Projekt und wen suchen Sie genau?
Das Projekt richtet sich an Athleten aus verschiedenen Sportarten mit Erfahrung im Leistungssport, die entweder ihr maximales Potenzial in ihrer Sportart erreicht haben und nicht weiter kommen, oder die eine neue Challenge suchen, um als Athlet die Weltspitze zu erreichen. Gesucht werden auch Teilnehmer, die physiologisch für das Rudern geeignet sind, bis jetzt noch keine Leistungssporterfahrung haben, aber, die den Willen und die Motivation mitbringen, um ihre eigenen Grenzen zu testen.
Selbstverständlich wird auch weiterhin der bestehende Juniorenbereich im Rudern gefördert, jedoch steigen junge Ruderer häufig nach ihrer aktiven Karriere bei den Junioren aus und fehlen als Leistungssportler für den A-Bereich. Wir versuchen mit dem Pilotprojekt ein System zu entwickeln, mit dem wir Sportler ab dem Alter von 16 Jahren, die Potential für den Ruderleistungssport mitbringen, herausfiltern können und versuchen, diese durch gezieltes Training an die Weltspitze zu bringen. Da wir bereits viele Bundeswehrsoldaten in den Reihen der erfolgreiche Athleten unserer deutschen Nationalmannschaft haben, suchen wir natürlich auch potentielle Quereinsteiger, die über die Bundeswehr zu uns in den Ruderleistungssport kommen.
Gibt es für die Idee des Talent Transfer international bereits Vorbilder?
International ist Talent Transfer im Leistungssport kein neues Konzept. Seit dem Jahr 2000 arbeiten die Briten bereits mit einem Programm, das systematisch nach Athleten sucht, die für einen Späteinstieg in andere Sportarten gut geeignet sind. Neben den Disziplinen, aus denen die Sportler ursprünglich kommen, werden die gewünschten physiologischen Eigenschaften der Athleten definiert, die ein Quereinsteiger mitbringen muss, um gute Voraussetzungen für die Weltspitze zu haben. Mit diesen Spezifikationen werden anschließend gezielt Sportler gesucht, die zuerst getestet werden und anschließend speziell trainieren, mit dem Ziel, sich innerhalb kürzester Zeit mit den Athleten an der Weltspitze messen zu können.
Konnten andere Länder mit dem Talent Transfer-System im Rudern bereits Erfolge erzielen?
Im Jahr 2012, bei den Olympischen Spielen in London, hat das Talent Transfer-Programm der Briten riesige Erfolge gezeigt. Seit dem Jahr 2000 sind in England bereits über 100 Athleten in 17 Sportarten identifiziert geworden und haben in dieser Zeit über 150 internationale Medaillen gewonnen. Die Engländer haben zuerst im Rudersport mit dem Quereinsteigerprogramm begonnen und die Tests anschließend für weitere Disziplinen entwickelt. Bei den Olympischen Spielen in London ruderten 14 Talent Transfer-Athleten in der Olympia-Mannschaft, 6 von ihnen haben Medaillen gewonnen, davon in 4 Bootsklassen Gold. In Großbritannien, Australien und Amerika gibt es mehrere Beispiele von Athleten, die mit über 20 Jahren zum ersten Mal im Boot saßen und mit speziellem Training später internationale Medaillen gewonnen haben. Heather Stanning und Helen Glover aus Großbritannien sind dafür ein sehr gutes Vorbild. Mit 20 und 21 Jahren wurden sie bei einer Sichtung entdeckt und bereits 2 Jahre später haben sie ihre ersten U23-WM- und Senioren-WM-Medaillen gewonnen. Nach insgesamt nur 4 Jahren gehörte auch olympisches Gold zu ihren Erfolgen im Frauen-Zweier ohne Steuerfrau.
Warum eignet sich der Sport Rudern für einen Quereinstieg?
Rudern ist eine Sportart, bei der ein Quereinstieg zu großem Erfolg führen kann. Man kann die Sportart in einem höheren Alter gut anfangen. Sportarten wie Schwimmen, die im frühen Alter von Sportlern begonnen werden, schulen viele physiologische Eigenschaften, die den Quereinstieg im Rudern erleichtern. Auch früh erlernte Disziplin und regelmäßiges Training in anderen Sportarten, bereiten die Athleten für das anspruchsvolle Training im Ruderleistungssport vor. Rudern ist auch eine Sportart, bei der einige körperliche Voraussetzungen statistisch nachgewiesen Einfluss auf die Leistung und den Erfolg haben. So werden bei dem Talent Transfer-System Sportler gesucht, die eine Mindestgröße von 178 cm (Frauen) oder 188 cm (Männer) haben. Talent Transfer bietet für Athleten die Möglichkeit, sich testen zu lassen, um herauszufinden, ob sie das Potential für einen Quereinstieg mitbringen. Es ist keine Garantie, dass die Teilnehmer wirklich eine Medaille gewinnen werden, dafür ist die nationale und internationale Konkurrenz sehr stark, aber es ermöglicht einen Quereinstieg und gibt Sportlern die Chance, ihren Traum zu verwirklichen.
Das Train2Win-Projekt läuft seit Oktober 2014. Können Sie Unterschiede bei der Umsetzung des Talent Transfer-Systems zwischen Deutschland und England erkennen?
In Deutschland ist der Austausch zwischen den Sportarten nicht so rege wie in England. Außerdem fangen hier viele Sportler als Kind mit einer Sportart an und bleiben dabei. Manche Athleten trainieren 10 oder 15 Jahre lang in ihrer Sportart und sind national sehr stark, schaffen aber den Schritt auf die internationale Ebene nicht. Sie glauben, dass es keine andere Chance gibt und beenden ihre aktive Karriere. In England ist der Wechsel zu anderen Sportarten viel populärer. Wenn ein Sportler in England merkt, dass er sein Leistungsmaximum im seiner Sportart erreicht hat, schaut er sich um und versucht, in einer anderen Disziplin weiter zu kommen. Diese Einstellung, dass es wirklich möglich ist, später in einen neuen Sport einzusteigen und trotzdem bis an die Weltspitze gelangen zu können, ist für mich der größte Unterschied zwischen Deutschland und England. Mit dem Train2Win-Projekt versuchen wir, diese Denkweise bei deutschen Athleten zu verändern und sie zu motivieren, ihre sportlichen Ziele nicht aufzugeben.
Wie läuft das Pilotprojekt in Hannover ab?
Das Pilotprojekt „Train2Win“ Hannover hat nach zwei Testphasen insgesamt fünf Athleten nominiert, die in ein Trainingslager nach Amposta, Spanien, eingeladen wurden. Anfang April 2015 gab es für die Teilnehmer, die ursprünglich aus dem Volleyball, Schwimmen, Fußball und Rugby kamen, einen einwöchigen „Crash-Kurs“ im Rudern. Rudertechnik im Boot und auf dem Ruder-Ergometer, Krafttraining, Laufen, Zirkeltraining und Stabilisationstraining standen auf dem Plan und wurden von allen Athleten diszipliniert durchgeführt. Wir sind sehr zufrieden mit den Athleten und ihren Leistungen im Trainingslager. Erwachsene Anfänger zu trainieren ist eine ganz andere Art von Training, als mit Kindern zu arbeiten. Obwohl der Fokus schon von Anfang an auf Leistung liegt, muss es Spaß machen, da ansonsten die Motivation schnell sinkt. Die Athleten trainieren nun täglich in Hannover und werden regelmäßig getestet, um ihre physische und technische Entwicklung zu messen. Wenn die Mindestleistung nicht erreicht wird, dann wird die weitere Teilnahme am Projekt in Frage gestellt. Das System dreht sich ganz klar um Leistung und die Fördermittel konzentrieren sich auf diejenigen, die die besten Chancen im internationalen Umfeld haben.
Aktuell handelt es sich um ein Pilotprojekt für Deutschland. Wie wird es weitergehen?
Das „Train2Win“-Programm in Hannover ist ein Pilot-Projekt des DRV, unterstützt von der Niedersächsischen Lotto-Sport-Stiftung. Wir hoffen natürlich, dass wir in der Zukunft bundesweit ähnliche Projekte durchführen können, damit alle Athleten, die Potenzial und Interesse haben, später mit dem Rudersport anfangen können. Aber erst einmal müssen wir Erfolge zeigen. In Leipzig hat bereits ein weiteres Quereinsteigerprogramm begonnen – „Row4Tokyo“. Unter der Leitung von Trainer Thomas Kleinfeld werden hier Athleten speziell für die Olympischen Spiele 2020 in Tokyo gesucht.
Unser Ziel ist es, nach dem internationalen Vorbild von England, bei den Talent Transfer Tests mit anderen Sportarten zusammen zu arbeiten und dadurch die Chancen, die richtigen Leute zu finden, zu erhöhen und sich untereinander auszutauschen. Wir wollen mehr Menschen für den Rudersport begeistern und hoffen, durch solche Projekte den Sportlern eine Möglichkeit zu geben, die vielleicht glauben keine Chance mehr zu haben international sportlich erfolgreich zu sein.
Eine Anmeldung für das laufende Pilot-Projekt in Hannover ist jederzeit möglich. Bitte wenden Sie sich per E-Mail an annika.wing@rudern.de . Gerne steht Ihnen Frau Dr. Wing auch für Informationen zu weiteren Quereinsteiger-Projekten in ganz Deutschland zur Verfügung.
Text und Fotos: DRV