Am frühen Montagmorgen Ortszeit erschütterte ein Erdbeben der Stufe sechs Japans Hauptstadt. Bei den 52. Mannschafts-Weltmeisterschaften in Tokio wankte Seriensieger China im Endspiel gegen Deutschland, fiel jedoch wieder einmal nicht. Die DTTB-Herren mit Dimitrij Ovtcharov, Timo Boll und Patrick Franziska verloren nach 2012 in Dortmund, 2010 in Moskau und 2004 in Doha erneut nach großer Gegenwehr das vierte deutsche Endspiel gegen das Reich der Mitte der WM-Geschichte. Matchwinner war Ma Long mit zwei Siegen, der im Anschluss zum wertvollsten Spieler des Turniers gekürt wurde. Ovtcharov entzauberte Olympiasieger Zhang Jike. „Irgendwann, vielleicht schon 2016, wird die Mannschaft der silbernen Medaille einen goldenen Anstrich geben. Ein paar Spritzer sind schon drauf“, sagte DTTB-Vizepräsidentin Heike Ahlert.
„Wir haben eine starke Generation in Deutschland, aber meine ganze bisherige Karriere über haben die Chinesen extrem starke Spieler. Da wünscht man sich manchmal, man wäre 20 Jahre früher geboren worden“, fasste Timo Boll seine Gefühle nach der erneuten Niederlage gegen „die spielstärkste Mannschaft der Welt“ (Zitat DTTB-Sportdirektor Dirk Schimmelpfennig) zusammen.
Boll: „Ma Long spielt einfach brutal“ / Ovtcharov bringt Zhang erste Niederlage in 27 WM-Spielen bei
Ma Longs unbändiger Jubel nach dem 11:6, 11:9 und 11:9 gegen Timo Boll zum Auftakt verdeutlichte, wie nah Boll besonders in den Durchgängen zwei und drei dran war am Weltranglisten-Zweiten. Es war ein Match auf hohem taktischen Niveau, in dem der Chinese versuchte, Boll mit Platzierungen zu beschäftigen, während Boll unter anderem probieren musste, dessen Bomben-Vorhand zu entschärfen. Beim Stand von 9:9 in Durchgang zwei und Aufschlag Boll war die Chance da. Doch der Aufschlag des Rekord-Europameisters geriet zu lang, und Ma punktete direkt mit einem krachenden Vorhand-Topspin. Beim nachfolgenden Satzball bekam der Chinese Unterstützung von der Netzkante. In Durchgang drei konnte Boll Führungen von 5:2 und 8:6 nicht nach Hause bringen. „Gegen ihn muss man den Aufschlag extrem gut hinbekommen. Ma Long spielt einfach brutal“, kommentierte Boll. „Gegen die Japaner kann man gut in den Ballwechsel kommen, aber er tötet die Bälle direkt. Dima hatte damit auch zu kämpfen.“
Dimitrij Ovtcharov spielte gegen Zhang Jike wie vom anderen Stern, war härter, platzierter, aber auch variabler als der Olympiasieger und amtierende Weltmeister, der im Verlauf dieser WM satzweise Schwächen offenbart hatte, aber nach der Beschreibung von Bundestrainer Jörg Roßkopf „der Mann ist, wenn es um die Entscheidung bei Weltmeisterschaften oder Olympischen Spielen geht“, dessen Stärke auch die mentale ist. Nicht zufällig war Zhang Jike bei Weltmeisterschaften 26 Partien lang ungeschlagen, hat im Einzelwettbewerb noch nie ein WM-Spiel verloren. Diese Serie riss heute. Nachdem sich Ovtcharov schnell mit 6:0 in Durchgang eins abgesetzt hatte, war Zhang bei 7:7 schon wieder dran, doch auch Ovtcharov bewies gute Nerven, gewann mit 11:8. In Satz zwei war es noch bis 7:6 ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Danach war Ovtcharov nicht mehr aufzuhalten, erst recht nicht im dritten Satz. „Es war das wohl beste Spiel meines Lebens“, ordnete Ovtcharov diesen Sieg ein. „Das hilft aber nichts, wenn die Mannschaft am Ende nicht gewinnt.“
Xu Xin für Franziska „einfach zu gut“
Der 21-jährige Patrick Franziska musste im Anschluss gegen den drei Jahre älteren Weltranglisten-Ersten Xu Xin auch im dritten Duell insgesamt gegeneinander Lehrgeld zahlen. Zwar steckte der zweifache Mannschafts-Europameister bei seinem Team-WM-Debüt nie auf und spielte im ersten und vor allem dritten Satz gut mit, doch war er dem Penholder spielenden Linkshänder mit dem gefährlichen Aufschlag-Rückschlag-Spiel und den schnellen Beinen diesmal auch an Härte noch deutlich mit 0:3 unterlegen. Gegen Xu kassierte Franziska seine einzige Niederlage bei dieser WM. „Man rechnet sich vorher natürlich etwas aus, aber er war heute einfach zu gut“, sagte der Jüngste im DTTB-Team. „Er hat mich gar nicht ins Spiel kommen lassen.“
Dass Dimitrij Ovtcharov alle vorangegangenen neun Partien gegen Ma Long verloren hat, war zu Matchbeginn offenkundig gegenstandslos. Ovtcharov knüpfte an seine Form vom Auftaktmatch an und erspielte sich in Durchgang eins bei 10:9 einen Satzball. Bei Aufschlag Ma Long und dessen anschließender Eröffnung stand der Deutsche jedoch nicht optimal zum Ball und zog seine Vorhand ins Netz. Auch die beiden Punkte danach gingen an den Team-Olympiasieger von London. Der war danach in Fahrt und ließ sich und seinem Team den Sieg selbst gegen einen sich heftig wehrenden amtierenden Einzel- und Team-Europameister nicht mehr nehmen. „Das 10:9 war eine riesen Chance, danach das ganze Spiel zu gewinnen“, wusste Ovtcharov. „Zhang Jike wäre im letzten Spiel gegen Timo sicherlich angeschlagen gewesen.“
Roßkopf: „Den Ausfall der Nummern drei und vier in einer Mannschaft kann sich nur China leisten“
Die Nummer vier im DTTB-Quartett von Japan, SU Steffen Mengel von der Sportfördergruppe Bw Mainz, saß im Endspiel auf der Bank, half in der Vorbereitung auf das Finale und feuerte sein Team lautstark an. Sein Fazit: „Man kann der Mannschaft keinen Vorwurf machen. Wir sind zur WM gefahren mit dem Glauben daran, dass wir hier Weltmeister werden können. Die Chinesen waren einfach besser. Gerade Ma Long und Xu Xin haben bärenstark gespielt. Die Silbermedaille werde ich mit Sicherheit gut aufbewahren.“
Herren-Bundestrainer Jörg Roßkopf bilanzierte: „Wir haben hier ein gutes Turnier gespielt. Wir hatten kleine Chancen im Spiel von Timo und in Dimas zweitem. Wir haben die Chinesen unter Druck gesetzt. Bei einem Stand von 2:2 hätten wir eine gute Chance auf den Sieg gehabt. Die Chinesen haben aber verdient gewonnen.“ Nicht vergessen dürfe man die Rahmenbedingungen für Deutschlands Herren. „Unsere vier hier haben einen guten Job gemacht. Aber den Ausfall der Nummern drei und vier in einer Mannschaft“, womit er den verletzten Bastian Steger und den erkrankten SU Patrick Baum ebenfalls von der Sportfördergruppe Bw Mainz meinte, „kann sich nur China leisten, und keine andere Nation der Welt“.
Ma Long verschläft Erdbeben in Tokio und bringt Deutschland zu Fall
„Ich habe mich zwischendurch geärgert und gedacht, ich hätte heute noch besser spielen können“, so Timo Boll. Rückblickend fügte er aber an. „Erst als ich Ma Long gegen Dima gesehen habe, konnte ich seine und meine Leistung akzeptieren.“ Ausgerechnet Ma, der den Ruf hat, im chinesischen Team zwar spielerisch der Kompletteste zu sein, aber auch der Ängstlichste. „Das ist eine Schublade, in die er hineingerutscht ist“, sagte Jörg Roßkopf. „Er ist der Spieler, der großes Potenzial hat, aber bei großen Turnieren des Öfteren verloren hat, wenn es um Titel ging.“ Als Coach weiß er neben Ma Longs Spielvermögen auch eine andere Tatsache zu fürchten: „Für seine Mannschaft ist er auch deshalb wichtig, weil er Vollgas gibt von der ersten bis zur letzten Sekunde.“
Ausgerechnet Ma Long war derjenige, der – wie er nach dem Finale zugab – fast die gesamte WM über nachts schlecht geschlafen habe. „Jede Nacht habe ich mich im Bett hin- und hergeworfen, habe mir Tausend Gedanken gemacht“, erzählte Ma. „Nur in der Nacht vor dem Finale, da habe ich seltsamerweise am besten geschlafen, so fest, dass ich das Erdbeben gar nicht bemerkt habe.“ Stattdessen hat er die Deutschen zu Fall gebracht.
Deutschland – China 1:3
Timo Boll – Ma Long 0:3 (-6,-9,-9)
Dimitrij Ovtcharov – Zhang Jike 3:0 (11,8,6)
Patrick Franziska – Xu Xin 0:3 (-5,-2,-8)
Ovtcharov – Ma Long 0:3 (-10,-5,-2)
Stimmen zum Spiel
Thomas Weikert, DTTB-Präsident und stellvertretender ITTF-Präsident: „Wir haben gegen ein überragendes chinesisches Team verloren, wobei wir durchaus unsere Chancen hatten und China beim Stand von 1:1 erheblich unter Druck war. Auf ein Neues in 2016 und meine Gratulation an China zu diesem Sieg heute!“
Heike Ahlert, DTTB-Vizepräsidentin Leistungssport: „Das vierte deutsche Finale gegen China war für mich das mit den meisten Chancen. Auch wenn das Spiel verloren gegangen ist: Die Mannschaft war nah dran. Mein herzlicher Glückwunsch geht an das Team für seine gesamte Leistung, nicht nur die im Finale. Irgendwann, vielleicht schon 2016, wird die Mannschaft der silbernen Medaille einen goldenen Anstrich geben. Ein paar Spritzer sind schon drauf.
Insgesamt habe ich eine gute WM des gesamten deutschen Teams gesehen, bedenkt man auch die erschwerten Bedingungen im Damen-Team und die Ausfälle der Nummern drei und vier bei den Herren. Besonders erfreut hat mich die gute Entwicklung der jungen Spieler, die in den Mannschaften schon entscheidende Partien gewonnen haben. Mein Dank geht an das Trainer- und Betreuerteam für die gute Arbeit.“
Dirk Schimmelpfennig, DTTB-Sportdirektor: „Wir haben trotz einer guten Leistung heute gegen die spielstärkste Mannschaft der Welt verloren. Wir haben wieder ein Einzel gewonnen. Um den Druck auf den Favoriten zu erhöhen, müssen wir die Partien gewinnen, die wir durch unsere Spielstärke bis zum Satzende knapp gestalten. In Führung liegend entfalten die Chinesen ihr Spielvermögen und sind dann schwer zu stoppen.“
Hongkong und Zeitspiel stoppen DTTB-Damen im Viertelfinale
Die Team-Medaille, die sich Deutschlands Spielerinnen nach ihren tadellosen Auftritten in Tokio mit spielerisch und kämpferisch geschlossenen Mannschaftsleistungen zurecht erträumt hatten, blieb gegen Hongkong aus. Coach Schöpp konnte trotzdem eine positive Bilanz ziehen. „Man muss anerkennen, dass Hongkong insgesamt mehr technische Möglichkeiten hatte als wir. Ich freue mich aber sehr über die Entwicklung meiner Spielerinnen hier, besonders über die der beiden Jüngsten.“
Team-WM in Tokio: Die Entscheidung
Finale Herren-Mannschaft
China – Deutschland 3:1
Finale Damen-Mannschaft
China – Japan 3:0
Text und Fotos: DTTB